Freitag, 2. Juli 2021
Wer haftet für den, durch das Auffahren des hinteren Fahrzeugs beim Vordermann verursachten Schaden bei einem Kettenauffahrunfall, wenn der Ablauf der Zusammenstöße der beteiligten Fahrzeuge nicht mehr aufzuklären ist?
An einem Kettenauffahrunfall im Mai 2011 auf der Gildehauser Straße in Gronau waren die aus Gronau stammenden Parteien beteiligt, der Kläger mit seinem von seiner Frau gefahrenen Pkw Renault Grand Scénic und die Beklagte mit ihrem Pkw Renault Clio.
Dabei prallte die Beklagte mit ihrem Fahrzeug als letzte der an dem Unfall insgesamt beteiligten vier Fahrzeuge auf das vor ihr fahrende Fahrzeug des Klägers. Das Fahrzeug des Klägers erlitt neben dem durch das Auffahren der Beklagten verursachten Heckschaden durch eine Kollision mit dem ihm vorausfahrenden Fahrzeug auch einen Frontschaden.
Im Prozess konnte nicht aufgeklärt werden, ob die Ehefrau des Klägers unter Verkürzung des Bremsweges für die ihr folgende Beklagte zuerst auf das ihr vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren war oder ob die Beklagte das klägerische Fahrzeug erst durch ihr Auffahren auf das vor dem klägerischen Pkw befindliche Fahrzeug aufgeschoben hatte.
Die Entscheidung:
Der Auffahrende hat immer schuld - so die herrschende Meinung unter Verkehrsteilnehmern.
Zunächst mal nicht falsch: Gegen den Auffahrenden spricht grundsätzlich der sog. Beweis des ersten Anscheins dahingehend, dass er entweder nicht genügend Sicherheitsabstand eingehalten oder infolge von Unaufmerksamkeit nicht rechtzeitig auf ein Hindernis oder das Fahrverhalten eines Vorausfahrenden reagiert oder gegen das Sichtfahrgebot verstoßen hat.
Dieser Anscheinsbeweis muss in der Regel von ihm durch bewiesene Tatsachen widerlegt werden, d. h. es müssen Umstände bewiesen werden, aus denen sich ein mögliches Abweichen von der typisierenden Wertung ergibt, z. B. ein unbegründetes abruptes Abbremsen oder ein Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden.
Der in der Regel gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für sein Verschulden ist bei Kettenauffahrunfällen wie dem vorliegenden nicht auf die innerhalb der Kette befindlichen Kraftfahrer anwendbar, weil häufig nicht feststellbar ist, wer auf wen aufgefahren ist und wer wen auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben hat. Das gilt insbesondere für die Verursachung des Frontschadens am Fahrzeug des Klägers, weil zwischen den Parteien streitig ist und weder durch das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten noch durch Zeugenaussagen geklärt werden konnte, ob die Ehefrau des Klägers vor dem Aufprall der Beklagten auf das ihr vorausfahrende Klägerfahrzeug aufgefahren ist oder ob sie vorher hat rechtzeitig bremsen können und sodann vom Fahrzeug der Beklagten auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben worden ist.
Auch hinsichtlich der streitigen Verursachung des Heckschadens am Fahrzeug des Klägers ist eine andere Bewertung nicht geboten.
Zwar wird in der Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes Verhalten jedenfalls auf den letzten in der Kette der Unfallfahrzeuge auffahrenden Fahrer anwendbar sei, soweit es um die Verursachung des Heckschadens gehe. Diese Auffassung wird damit begründet, dass bei ihm regelmäßig feststehe, dass er nicht aufgeschoben worden sei, mit der Folge, dass es sich für ihn um einen gewöhnlichen Auffahrunfall handele. Soweit er behaupte, der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs habe den Bremsweg unerwartet verkürzt, indem er selbst auf den Vordermann aufgefahren sei, obliege es ihm, die sich aus dem Beweis des ersten Anscheins begründete richterliche Überzeugung zu erschüttern.
Bei dieser Argumentation wird jedoch übersehen, dass der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen voraussetzt, dass es sich um einen typischen Geschehensablauf handelt, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Dabei ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil der Anscheinsbeweis es erlaubt, aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache, bzw. das Verschulden festgestellt werden muss. Deshalb reicht alleine der Auffahrunfall als „Kerngeschehen“ als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt zur Überzeugung des OLG Hamm ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist. Kann eine solche Feststellung nicht getroffen werden, fehlt es an einem typischen Geschehensablauf, der ein Verschulden des zuletzt in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmers aufdrängt, weil dann die Möglichkeit besteht, dass der Vorausfahrende für den auffahrenden Verkehrsteilnehmer unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ zum Stehen gekommen ist, indem er seinerseits auf seinen Vordermann aufgefahren ist und deswegen den Anhalteweg für den ihm nachfolgenden Verkehrsteilnehmer unzumutbar verkürzt hat.
Diese Überlegungen führen dazu, dass bei der streitgegenständlichen Fallkonstellation von einem Anscheinsbeweis zugunsten des Klägers nicht ausgegangen werden kann. Damit fehlt es an der Typizität des Unfallgeschehens, welches die Annahme eines Verschuldens der Beklagten im Wege des Anscheinsbeweises rechtfertigen könnte.
Auch auf Seiten des Klägers fällt bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile lediglich die Betriebsgefahr des von seiner Ehefrau gesteuerten Fahrzeugs ins Gewicht.
Ein Verschulden der Ehefrau kann nicht festgestellt werden, weil die Beklagten den ihnen obliegenden Beweis für ihre Behauptung, dass die Ehefrau des Klägers infolge Unachtsamkeit zuerst auf das ihr vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren sei, nicht erbracht haben und die Grundsätze des Anscheinsbeweises insoweit nicht anwendbar sind.
Da die von den am streitgegenständlichen Unfallgeschehen beteiligten Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr jeweils gleich hoch zu bewerten ist und sonstige unstreitige oder bewiesene Umstände, die eine Erhöhung der Betriebsgefahr auf der einen oder anderen Seite rechtfertigen könnten, nicht vorliegen, erscheint es angemessen, eine Haftungsverteilung zu gleichen Teilen vorzunehmen.
Die Beklagte haftet danach in Höhe von 50% für den von der Beklagten mitverursachten Heckschaden am Fahrzeug des Klägers.
Der Auffahrende hat - wie in diesem Fall - nicht immer, jedenfalls nicht zu 100 %, schuld.
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